Training von Classroom Management im virtuellen Klassenzimmer: Potenziale und Herausforderungen für die Lehrkräftebildung
08.09.2025: Unsere Kolleg/innen Jessica Kathmann und Marcel Capparozza haben in einer am Leibniz-Institut für Wissensmedien (IWM) entstandenen Literaturstudie die Forschung zum Einsatz von Extended Reality (XR, erweiterte Realität) in der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften zusammengefasst. Im folgenden Interview bieten sie Einblicke in ihre Ergebnisse und teilen Einschätzungen zu aktuellen Entwicklungen.

Jessica, Marcel, ihr habt gemeinsam die Literaturstudie „Innovative Technologien für effektives Classroom Management?“ (2023) veröffentlicht, in der es um den Einsatz von Virtual Reality, Mixed Reality und 360°-Videos in der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften geht. Warum hat euch die Forschung zu diesen neuen Möglichkeiten, Classroom Management zu trainieren, interessiert?
Marcel Capparozza: Mein Interesse an diesem Thema hatte viel mit persönlichen Erfahrungen zu tun. Bevor ich in die Forschung gegangen bin, habe ich die Lehramtsausbildung vollständig durchlaufen und als Lehrer gearbeitet. Daher ist „Classroom Management“ ein Thema, das mich sehr lange begleitet hat – in jedem Praktikum, im Referendariat und im Beruf. Ich fand es sehr spannend, dass es mittlerweile die technischen Möglichkeiten gibt, bestimmte oftmals herausfordernde Situationen in einem geschützten Raum erproben zu können.
Jessica Kathmann: Genau das fand ich auch als Psychologin interessant: Wie kann man mit technischen Möglichkeiten Trainingsräume schaffen, in denen man sich gefahrlos ausprobieren kann? Das ist ja das Schöne, wenn solche Anwendungen gut gestaltet sind: Ich kann einfach etwas ausprobieren und eine Situation wiederholen, bis ich die beste Lösung gefunden habe und dann weiß, was für mich in ähnlichen Situationen hilfreich ist.
Marcel Capparozza: Außerdem ist Classroom Management ein äußerst komplexes, spannendes Thema. Bei der Literaturstudie sollte es im Rahmen unseres Projekts um Teilhabe- und Gerechtigkeitsfragen im Kontext der Digitalisierung gehen. Das war auch das übergreifende Thema des Sammelbands (Wilmers et al., 2023), in dem wir unsere Ergebnisse veröffentlicht haben. Für soziale Teilhabe ist Classroom Management ein ganz entscheidender Aspekt. Denn Kinder oder Jugendliche, die Schwierigkeiten haben, dem Unterricht zu folgen, können durch besseres Classroom Management auch besser unterstützt werden. Wichtig ist aus pädagogischer Sicht, dass sich Classroom Management keinesfalls auf den Umgang mit Unterrichtsstörungen beschränkt, mindestens genauso wichtig sind die Beziehungsarbeit oder auch die Aufrechterhaltung der Motivation der Schülerinnen und Schüler. Gerade VR-Technologien bieten hier vielfältige Lernchancen. Wir fanden zum Beispiel Studien, in denen es darum ging, den Umgang mit autistischen Schülerinnen und Schülern zu üben oder nonverbale Kommunikation zu trainieren.
Jessica Kathmann: Sehr spannend fand ich auch die technische Seite: Macht es einen Unterschied, ob Erfahrungen im Praktikum gesammelt, mit Peers Unterrichtsstörungen simuliert oder Technologien wie VR oder 360°-Videos genutzt werden? Bieten diese Technologien wirklich einen Mehrwert oder sind sie doch eher eine nette technische Spielerei, die man sich mal anschauen kann, für die sich aber der Aufwand eigentlich gar nicht lohnt?
Marcel Capparozza: Der Vorteil einer Literaturstudie besteht darin, dass man Aussagen treffen kann, die sich aus der Zusammenfassung und Analyse von vielen Einzelstudien ergeben. Dafür werden in verschiedenen Datenbanken Studien gesucht, kriteriengeleitet ausgewählt, analysiert und anschließend zusammengefasst. Konkret haben wir uns angeschaut, wie die Klassenführung von Lehramtsstudierenden und Lehrkräften mithilfe von Virtual Reality, Mixed Reality und 360°-Videos gefördert werden kann und welche Effekte diese Trainings auf die Teilnehmenden bzw. deren Unterricht haben. Unter den knapp 3000 Suchergebnissen aus den einschlägigen Datenbanken haben wir zu diesen beiden Fragestellungen letztendlich 23 Studien gefunden. Die meisten waren aus den USA und ein kleinerer Teil aus Europa, davon erstaunlich viele aus Deutschland. Vielleicht haben wir in Deutschland einfach gerne ein geordnetes Klassenzimmer.
Was habt ihr denn herausgefunden? Lohnt sich der Aufwand oder sind virtuelle Lernumgebungen nur eine nette Spielerei?
Jessica Kathmann: Bei den experimentellen Studien zu diesem Thema hängt es sehr stark davon ab, was verglichen wird. Aber: Sowohl im Vergleich zum Lernen mit Videos oder Texten als auch im Vergleich zum Training im Rollenspiel mit anderen Studierenden wurden Vorteile der Nutzung von Virtual-Reality- und Mixed-Reality-Technologien deutlich. Also, es zeigte sich beispielsweise, dass die Teilnehmenden in einer virtuellen Realität, in der Schülerinnen und Schüler zu sehen waren, besser üben konnten als im Rollenspiel mit bekannten Gesichtern von Mitstudierenden (Samuelsson et al., 2021).
Man sollte hier aber immer im Hinterkopf haben, dass es sehr schwierig ist, die Studien in diesem Feld wirklich miteinander zu vergleichen, weil sie in ihrer Durchführung sehr heterogen sind: In manchen Studien erprobten die Teilnehmenden nur wenige Minuten in einem Labor eine VR-Anwendung, in anderen wurde während eines Semesters immer wieder damit gearbeitet. Es wurden auch sehr unterschiedliche Variablen erhoben, häufig eine Selbsteinschätzung der Studierenden und das Verhalten während des Trainings. Tendenziell sind die Effektstärken bei Selbsteinschätzungen höher als bei objektiveren Erhebungsformen wie der Beobachtung oder Assessments.
Wenig erforscht ist die Frage, ob solche Trainings auch Auswirkungen auf den Unterricht im Klassenzimmer haben. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass die meisten Studien mit Lehramtsstudierenden und nicht mit Lehrkräften durchgeführt wurden. Aber auch, ob sich die Teilnehmenden nach dem Training anders verhalten, wurde kaum untersucht − was ich sehr schade finde. Schließlich ist die Verhaltensveränderung ein wichtiges Kriterium, um die Nützlichkeit der Übungen und genutzten Formate in diesem Bereich zu beurteilen. In den meisten Fällen wurde allerdings einfach das Gefühl von Selbstwirksamkeit erhoben. Und da stellt sich dann für mich die Frage: Haben die Teilnehmenden nur ein besseres Gefühl, weil sie geübt haben, oder machen sie es wirklich besser? Das konnten die meisten Studien eben nicht beantworten.
Marcel Capparozza: Und was das „Wie“, also die Gestaltungsmerkmale der Settings für die Förderung der Klassenführungskompetenzen anbelangt, zeigte sich, dass die Erprobung im eigenen Handeln und die anschließende Reflexion wichtige Aspekte sind. Also: Was habe ich erlebt? Wie habe ich reagiert? Was könnte ich anders machen? Diese Reflexion ist entscheidend für einen nachhaltigen Lernprozess. Es geht also nicht in erster Linie um die technischen Möglichkeiten, sondern vor allem um die didaktische Einbettung dieser Trainings.
Und welche Schlussfolgerungen würdet ihr auf Basis eurer Beschäftigung mit dem Thema für den konkreten Einsatz von XR-Technologien in der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften ziehen? Was sollte beachtet werden, damit solche Lernumgebungen tatsächlich einen Mehrwert haben?
Marcel Capparozza: Das Ziel sollte sein, dass die bestehenden Überzeugungen zum Classroom Management reflektiert werden und wahrgenommen wird, wo es Abweichungen zwischen der Unterrichtspraxis und den Überzeugungen von Lehrkräften bzw. Lehramtsstudierenden gibt. Und es geht darum, alternative Praktiken kennenzulernen – unabhängig davon, ob in der Aus- und Weiterbildung mit Texten oder Videos oder mit VR-Umgebungen gearbeitet wird. Einen Mehrwert hat die Auseinandersetzung mit Classroom Management, wenn sich dabei die eigene Praxis verändern kann, zum Beispiel weil man feststellt: Ich muss auf eine Störung nicht immer verbal reagieren und könnte stattdessen beispielsweise nur mit Blicken arbeiten. Oder ich kann eine kleinere Störung auch vollständig ignorieren und priorisieren, mit dem Unterricht fortzufahren.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist das aktive Ausprobieren. Und das lässt sich in einer VR-Umgebung sehr gut umsetzen. Man muss nicht vor einer echten Klasse stehen, um ein häufig sehr sensibles Thema wie Classroom Management zu üben. Und es ist realistischer als mit seinen Kommilitoninnen und Kommilitonen oder mit Kolleginnen und Kollegen im Rollenspiel zu arbeiten. Ich glaube, hier liegen die größten Potenziale. Wichtig finde ich auch, dass die Übungen anschließend reflektiert werden. Da gibt es zum Beispiel die Möglichkeit, mit Reflexionstagebüchern zu arbeiten. Und dann ist noch der weiterführende Austausch mit anderen wichtig – in Meetings, Diskussionsrunden, Netzwerken und so weiter. So können sich Überzeugungen und Praktiken weiterentwickeln.
Aber ich glaube auch, dass wir eigentlich noch lernen müssen, uns in VR-Umgebungen zu bewegen. Das sind ja teilweise sehr überwältigende Eindrücke. Im Englischen sagt man zu diesem Gefühl „presence“. Da zeigte sich in einer Metaanalyse (Cummings & Bailenson, 2016): Je ausgeprägter die Immersivität in einer Lernumgebung ist, umso größer ist die gefühlte Eingebundenheit in die virtuelle Umgebung.
Aber wenn es rein um das Lernergebnis geht, könnte man bildlich gesprochen die VR-Brille vermutlich oft weglassen. Dazu ist ein Blick in die Forschung interessant, in der immersive VR (wofür in der Regel VR-Brillen genutzt werden) mit nicht-immersiver VR (also der Nutzung von Computersimulationen am Bildschirm) verglichen wurde. Bisher zeigen viele Studien, dass es für den Lernerfolg keinen Unterschied macht, ob ein immersives Medium genutzt wurde oder nicht (Wu et al., 2020).
Diese Ergebnisse aus der Forschung zu virtuellen Lernumgebungen finde ich sehr spannend mit Blick auf den Aufwand, das Geld und die Räumlichkeiten, die man für die Arbeit mit immersiver VR benötigt. Bei 360°-Videos ist es dasselbe. Da sollte man auch aus ökonomischer Perspektive kritisch drauf schauen im Sinne von: Lohnt sich die Anschaffung und der Unterhalt von VR-Brillen und des erforderlichen Settings? Wir fanden beispielsweise auch Studien einer Forschungsgruppe um Elisa Shernoff (2021, 2022) aus den USA, die zeigten, dass Lehrkräfte auch zuhause mit einer nicht-immersiven virtuellen Lernumgebung effektiv Classroom Management-Kompetenzen erwerben können.
Nun habt ihr eure Literaturstudie vor eineinhalb Jahren veröffentlicht und seitdem ist die technische Entwicklung weitergegangen – sicherlich auch im Hinblick auf die Kombination von XR-Technologien mit Künstlicher Intelligenz (KI). Welche aktuellen Trends findet ihr besonders interessant? Wo seht ihr für die Zukunft das größte Potenzial?
Jessica Kathmann: Man kann sich natürlich sehr gut Szenarien vorstellen, in denen KI in VR-Trainingsumgebungen genutzt wird, um die spontanen Reaktionen und Äußerungen der Schüler/innenfiguren zu modellieren. Bislang wurden dafür entweder Schauspieler/innen benötigt, die für diese Figuren sprechen und sie steuern, was recht teuer in der Umsetzung ist, oder es war eben stark standardisiert. Also, jemand sitzt an einem Pult und wählt per Knopfdruck aus, welche Figur welche Störung verursacht. Ich gehe davon aus, dass hier zunehmend mit KI gearbeitet wird, etwa mit Text-to-Speech-Anwendungen. Und ich denke, dass man solche Szenarien dann mehr oder weniger automatisch ablaufen lassen kann, nachdem man passende Prompts für ein zu trainierendes Szenario ausgewählt hat.
Vielleicht funktioniert das Training sogar noch besser, wenn man das Gefühl hat: Ich habe ein Gegenüber, mit dem ich spreche. Also, ich spreche nicht mit Schauspieler/innen, die eine Rolle spielen, sondern mit einer eigenen Entität, selbst wenn sie künstlich ist. Grundsätzlich sehe ich in den aktuellen Entwicklungen einerseits die Möglichkeit, die Übungsszenarien zu erweitern und andererseits Umsetzungsmöglichkeiten, die Aufwand und finanzielle Ressourcen sparen.
Marcel Capparozza: Ich würde noch ergänzen, dass diese Lernumgebungen zukünftig mit Machine Learning-Techniken noch adaptiver werden können. Somit könnten Lehrkräfte, während sie in der VR-Umgebung arbeiten, direkt auch schon ein Feedback dazu erhalten, wie sie reagiert haben. Das wäre dann kein vorprogrammiertes Feedback, sondern ein in die Situation eingebundenes Feedback. Damit wäre das Training noch authentischer und maßgeschneidert auf die Bedürfnisse der Teilnehmenden. Sicherlich ist das auch sehr anspruchsvoll in der Entwicklung. Dafür sollte man – wie es ja auch immer mehr getan wird – universitätsübergreifend zusammenarbeiten und die Erfahrungen, die Bedürfnisse und die Expertise der Lehramtsstudierenden und Lehrkräfte miteinbeziehen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Zitation der im Interview vorgestellten Studie:
Capparozza, M., & Kathmann, J. (2023). Innovative Technologien für effektives Classroom Management? Ein Critical Review über Virtual Reality, Mixed Reality und 360°-Videos in der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften. In A. Wilmers, M. Achenbach, & C. Keller (Hrsg.), Bildung im digitalen Wandel: Die Bedeutung digitaler Medien für soziales Lernen und Teilhabe (4, S. 107-133). Waxmann. https://dx.doi.org/10.31244/9783830998464.04
Take Aways
- Die Forschungslandschaft zu Virtual Reality, Mixed Reality und 360°-Videos in der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften ist vielfältig.
- Nur in wenigen Studien wurde untersucht, ob das Training mit solchen Technologien tatsächliche Verhaltensveränderungen der (angehenden) Lehrkräfte bewirkt.
- In der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften sollten nicht die technischen Möglichkeiten von XR-Technologien im Fokus stehen, sondern deren didaktische Einbettung.
- Neue technische Möglichkeiten (insbesondere KI) könnten die Gestaltungsmöglichkeiten von virtuellen Trainings für das Classroom Management zukünftig noch einmal deutlich erweitern.
Über die Interviewpartner
Marcel Capparozza ist Grundschullehrer mit einem Master of Science in Bildungspsychologie. Aktuell promoviert er am Tübingen Center for Digital Education zu der Frage, wie digitalgestützte und evidenzbasierte Materialien den Wissenserwerb und die Unterrichtspraxis von Lehrkräften unterstützen. Zuvor war er am Leibniz-Institut für Wissensmedien (IWM) im BMBF-Metavorhaben „Digitalisierung im Bildungsbereich“ (Digi-EBF) beschäftigt und arbeitete am Institut für Bildungsanalysen Baden-Württemberg (IBBW) unter anderem als Referent für Transferforschung und -förderung.
Jessica Kathmann ist Psychologin (M.Sc.) und promoviert am Leibniz-Institut für Wissensmedien (IWM) über Neugier-Prozesse beim Lernen mit digitalen Spielen. Dazu konzipiert sie ein Multi-Touch-Tisch-Spiel für den Deutschunterricht der Oberstufe. Zuvor arbeitete sie im BMBF-Metavorhaben „Digitalisierung im Bildungsbereich” (Digi-EBF) zu digitalen Kompetenzen von Lehramtsstudierenden. Hierbei unterstützte sie auch den Ausbau des Portals e-teaching.org. Darüber hinaus beschäftigt sie sich bei Behind the Screens mit der Schnittstelle von Psychologie und digitalen Spielen im Kontext von Bildung und Unterhaltung.
Über das Projekt Digi-EBF am IWM
Die im Interview vorgestellte Literaturstudie „Innovative Technologien für effektives Classroom Management?“ entstand im Rahmen des Metavorhabens „Digitalisierung im Bildungsbereich“ (Digi-EBF), für das am Leibniz-Institut für Wissensmedien (IWM) von 2018 bis 2023 die Digitalisierung im Lehramtsstudium im Mittelpunkt stand. Der Aufgabenbereich des IWM-Teilvorhabens umfasste die drei Schwerpunkte Wissenschaftstransfer, Vernetzung und Kommunikation und Forschung.
